Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen Freunden (Kapitel 3–28)

Warum muss ich noch leben?

Dann erst begann Hiob zu sprechen. Er verfluchte den Tag seiner Geburt und sagte:

»Ausgelöscht sei der Tag,
an dem ich geboren wurde,
und auch die Nacht,
in der man sagte: ›Es ist ein Junge!‹.
Jener Tag versinke in tiefer Finsternis –
kein Licht soll ihn erhellen!
Selbst Gott da oben vergesse ihn!
Ja, der Tod soll ihn holen – diesen Tag!
Ich wünschte, dass sich dunkle Wolken auf ihn legten
und die Finsternis sein Licht erstickte!

Für immer soll sie dunkel bleiben –
die Nacht meiner Geburt!
Ausgelöscht sei sie aus dem Jahreskreis,
nie wieder erscheine sie auf dem Kalender!
Stumm und öde soll sie sein,
eine Nacht, in der sich keiner mehr freut!
Verfluchen sollen sie die Zauberer,
die Tag und Nacht verwünschen können
und die den Leviatan[a], dieses Ungeheuer, wecken!
Jene Nacht soll finster bleiben,
ohne alle Sternenpracht!
Vergeblich warte sie aufs Sonnenlicht,
die Strahlen des Morgenrots sehe sie nicht!
10 Denn sie ließ zu, dass meine Mutter mich empfing,
die Mühen des Lebens hat sie mir nicht erspart.
11 Warum bin ich nicht bei der Geburt gestorben,
als ich aus dem Leib meiner Mutter kam?
12 Wozu hat sie mich auf den Knien gewiegt
und an ihrer Brust gestillt?
13 Wenn ich tot wäre,
dann läge ich jetzt ungestört,
hätte Ruhe und würde schlafen,
14 so wie die Könige und ihre Berater,
die sich hier prachtvolle Paläste bauten – längst zu Ruinen zerfallen –,
15 und wie die Herrscher,
die Gold und Silber besaßen
und ihre Häuser damit füllten.
16 Warum wurde ich nicht wie eine Fehlgeburt verscharrt,
wie Totgeborene, die nie das Tageslicht sahen?
17 Bei den Toten können die Gottlosen nichts mehr anrichten,
und ihre Opfer haben endlich Ruhe.
18 Auch die Gefangenen lässt man dort in Frieden;
sie hören nicht mehr das Geschrei des Aufsehers.
19 Ob groß oder klein: Dort sind alle gleich,
und der Sklave ist seinen Herrn los.
20 Warum nur lässt Gott die Menschen leben?
Sie mühen sich ab, sind verbittert und ohne Hoffnung.
21 Sie sehnen sich den Tod herbei –
aber er kommt nicht!
Sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze,
22 und erst wenn sie endlich im Grab ruhen,
empfinden sie die größte Freude!
23 Warum muss ich noch leben?
Gott hat mich eingepfercht;
ich sehe nur noch Dunkelheit!
24 Schmerzensschreie sind mein tägliches Brot,
und das Stöhnen bricht aus mir heraus.
25 Meine schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen,
und wovor mir immer graute – das ist jetzt da!
26 Ohne Ruhe und Frieden lebe ich dahin,
getrieben von endloser Qual!«

Elifas: Kann ein Mensch gerechter sein als Gott?

Elifas aus Teman versuchte als Erster, Hiob eine Antwort zu geben.

»Du bist zwar aufgebracht«, sagte er,
»doch will ich versuchen, dir etwas zu sagen;
ich kann nicht länger schweigen!
Du selbst hast zahllose Menschen gelehrt,
auf Gott zu vertrauen.
Kraftlose Hände hast du wieder gestärkt.
War jemand mutlos und ohne Halt,
du hast ihn wieder aufgerichtet
und ihm neuen Lebensmut gegeben.
Jetzt aber, wo du selbst an der Reihe bist,
verlierst du die Fassung.
Kaum bricht das Unglück über dich herein,
bist du entsetzt!
Dabei hast du allen Grund zur Hoffnung!
Dein Leben war stets tadellos,
und Gott hast du von Herzen geehrt.
Sei zuversichtlich!
Kannst du mir nur ein Beispiel nennen,
wo ein gerechter Mensch schuldlos zugrunde ging?
Im Gegenteil – immer wieder habe ich gesehen:
Wer Unrecht sät, wird Unglück ernten!
Denn Gott fegt Übeltäter mit seinem Atem hinweg,
mit zornigem Schnauben richtet er sie zugrunde.
10 Wenn sie auch wie die Löwen brüllen,
bringt Gott sie doch zum Schweigen
und bricht ihnen die Zähne aus.
11 Sie verenden wie Löwen,
die keine Beute mehr finden,
und ihre Kinder werden in alle Winde zerstreut.
12 Hiob, heimlich habe ich eine Botschaft bekommen,
leise wurde sie mir zugeflüstert!
13 Es geschah in jener Zeit der Nacht,
wenn man sich unruhig im Traum hin- und herwälzt,
wenn tiefer Schlaf die Menschen überfällt:
14 Da packten mich Grauen und Entsetzen;
ich zitterte am ganzen Leib.
15 Ein Windhauch wehte dicht an mir vorüber –
die Haare standen mir zu Berge!
16 Dann sah ich jemanden neben mir,
aber ich konnte ihn nicht erkennen,
nur ein Schatten war zu sehen; er flüsterte:
17 ›Kann denn ein Mensch gerecht sein vor Gott,
vollkommen vor seinem Schöpfer?‹
18 Selbst seinen Dienern im Himmel vertraut Gott nicht,
und an seinen Engeln findet er Fehler.
19 Wie viel weniger vertraut er dann den Menschen!
Sie hausen in Lehmhütten,
die im Staub auf der Erde stehen,
und werden wie eine Motte zertreten.
20 Mitten aus dem Leben werden sie gerissen,
unwiederbringlich, und keiner beachtet es!
21 Ja, Gott bricht ihre Zelte ab;
sie sterben plötzlich
und sind kein bisschen weise geworden!«

Unterwirf dich Gott!

»Klag nur, Hiob!
Aber meinst du, dich hört jemand?
An welchen Engel willst du dich denn wenden?
Wer sich Gott in blinder Wut entgegenstellt
und in seiner Dummheit aufbegehrt, der bringt sich um!
Ich sah solche Leute in Glück und Frieden leben,
dann aber verfluchte ich ihr Hab und Gut.
Ohne jede Hilfe standen ihre Kinder da;
niemand verteidigte sie,
als sie vor Gericht verurteilt wurden.
Über die Ernte dieser Narren machten sich die Hungrigen her –
selbst aus den Dornenhecken rissen sie die Halme heraus
und stürzten sich gierig auf all ihren Reichtum.
Unheil wächst nicht auf dem Acker,
und Mühsal schießt nicht aus der Erde empor.
Nein, von Geburt an gehört zum Menschsein die Mühe,
so wie zum Feuer die Funken gehören.
Ich an deiner Stelle würde mich an Gott wenden
und ihm meinen Rechtsfall vortragen.
Was Gott tut, ist groß und gewaltig,
niemand kann es begreifen;
seine Wunder sind unzählbar.
10 Er lässt Regen fallen,
und die Felder werden reich getränkt.
11 Wer klein und unbedeutend ist, den macht er groß;
die Trauernden können sich wieder freuen,
weil er sie rettet.
12 Die Pläne verschlagener Menschen vereitelt er,
so dass ihnen gar nichts gelingt.
13 Er fängt die Klugen mit ihrer eigenen Klugheit,
und ihre Machenschaften durchkreuzt er.
14 Am helllichten Tage tappen sie umher,
als wäre es stockdunkle Nacht.
15 Gott hilft dem Armen aus der Gewalt der Mächtigen
und schützt ihn vor ihren erbarmungslosen Worten.
16 Er gibt den Armen wieder Hoffnung
und bringt die Ungerechtigkeit zum Schweigen.
17 Glücklich ist der Mensch, den Gott zurechtweist!
Der Allmächtige will dich erziehen!
Sträube dich nicht!
18 Er schlägt dich zwar, doch er heilt auch wieder;
er verbindet alle Wunden, die er dir zufügt.
19 Bricht ein Unglück herein, so wird er dich retten;
jedes Mal bleibst du vom Untergang verschont.
20 In der Hungersnot erhält er dich am Leben,
und im Krieg bewahrt er dich vor gewaltsamem Tod.
21 Er beschützt dich vor übler Nachrede,
die wie Peitschenhiebe verletzt.
Du musst nicht befürchten,
dass dein Besitz verwüstet wird.
22 Verderben und Hungersnot lachst du aus,
und vor den wilden Tieren hast du keine Angst.
23 Steine werden den Ertrag deines Ackers nicht mindern,[b]
und die Raubtiere werden dich nicht angreifen.
24 In Ruhe und Frieden kannst du in deinem Haus leben,
und schaust du nach deinem Hab und Gut, so fehlt nichts.
25 Kinder und Enkel wirst du sehen,
so zahlreich wie die Blumen auf dem Feld.
26 Du bleibst rüstig bis ins hohe Alter,
und wenn du einst begraben wirst, gleichst du dem Korn,
das erst in voller Reife geerntet wird.

27 Das alles haben wir erforscht.
Du kannst uns glauben, es ist wahr!
Nun richte dich danach!«

Hiob: Mein Schmerz ist unerträglich!

Da antwortete Hiob:

»Ach, könnte mein Schmerz doch gewogen werden!
Legte man doch mein Elend auf die Waage!
Es wiegt schwerer als der Sand am Meer,
und deshalb sind meine Worte so unbeherrscht.
Der Allmächtige hat mich mit seinen Pfeilen durchbohrt,
tief dringt ihr Gift in mich ein[c].
Gott hat mich mit seinen Schrecken eingekesselt.
Kein Wildesel schreit, wenn er Gras hat;
an der vollen Futterkrippe brüllt kein Stier.
Doch welcher Mensch mag ungesalzene Speise,
wer schlürft schon gerne rohes Eiweiß?
Ich sträube mich, es anzurühren,
denn solche Nahrung macht mich krank!

Warum schlägt Gott mir meine Bitte ab
und gibt mir nicht, was ich so sehnlich wünsche?
Ich wünsche mir nur eins:
dass er mich zermalmt und mir das Lebenslicht ausbläst!
10 Denn einen Trost hätte ich auch dann noch,
Grund zum Jubeln trotz schrecklicher Schmerzen:
Was der heilige Gott geboten hat,
daran habe ich mich immer gehalten!
11 Aber meine Kraft reicht nicht aus,
um noch länger zu hoffen!
Auf welches gute Ende soll ich geduldig warten?
12 Bin ich denn hart und unverwundbar wie ein Stein?
Ist mein Körper kraftvoll, wie aus Erz gegossen?
13 Ich bin völlig hilflos
und weiß nicht mehr aus noch ein!

14 Wer so verzweifelt ist wie ich,
braucht Freunde, die fest zu ihm halten,
selbst wenn er Gott nicht mehr glaubt.[d]
15 Ihr aber enttäuscht mich
wie die Flüsse in der Wüste,
deren Bett vertrocknet, sobald kein Regen mehr fällt.
16 Im Frühjahr treten sie über die Ufer,
trübe vom Schmelzwasser, in dem Eisschollen treiben.
17 Aber wenn es heiß wird,
versiegen sie und versickern im Boden.
18 Karawanen müssen vom Weg abweichen,
weil sie dort kein Wasser finden.
Sie steigen hinauf in die Wüste und gehen elend zugrunde.
19 Die Karawanen von Tema spähen nach den Wasserstellen,
die Händler von Saba sind auf sie angewiesen,
20 doch ihre Hoffnung wird bitter enttäuscht:
Sie kommen dorthin – das Flussbett ist leer!
21 Und ihr? Ihr seid genau wie diese Flüsse:
trostlos und leer. Ihr helft mir nicht!
Ihr seht mein furchtbares Schicksal
und weicht entsetzt zurück!
22 Wieso denn? Habe ich euch je gesagt: ›Schenkt mir etwas,
zahlt ein Bestechungsgeld für mich aus euren Taschen
23 und rettet mich vor dem Erpresser,
aus seinen Klauen kauft mich frei‹?
24 Gebt mir eine klare Antwort
und weist mir nach, wo ich im Irrtum bin,
dann will ich gerne schweigen!
25 Nur wer die Wahrheit sagt, überzeugt mich –
eure Vorwürfe beweisen nichts!
26 Wollt ihr meine Worte tadeln,
weil sie so verzweifelt klingen?
Was ich sage, verhallt ungehört im Wind!
27 Ihr würdet selbst ein Waisenkind verkaufen
und euren besten Freund verhökern!
28 Bitte, seht mich an!
So wahr ich hier sitze:
Ich sage euch die volle Wahrheit!
29 Ihr tut mir Unrecht!
Hört endlich auf damit,
denn immer noch bin ich im Recht!
30 Rede ich vermessen? Nie und nimmer!
Ich kann doch Recht und Unrecht unterscheiden!«

Gott, warum lässt du mich nicht in Ruhe?

»Das Leben der Menschen gleicht der Zwangsarbeit,
von früh bis spät müssen sie sich abmühen!
Ein Landarbeiter sehnt sich
nach dem kühlen Schatten am Abend;
er wartet darauf, dass ihm sein Lohn bezahlt wird.
Und was ist mein Lohn?
Monate, die sinnlos dahinfliegen,
und kummervolle Nächte!
Wenn ich mich schlafen lege,
denke ich: ›Wann kann ich endlich wieder aufstehen?‹
Die Nacht zieht sich in die Länge,
ich wälze mich schlaflos hin und her bis zum Morgen.
Mein Körper ist von Würmern
und von dreckigem Schorf bedeckt.
Meine Haut platzt auf und eitert.
Schneller als ein Weberschiffchen sausen meine Tage dahin,
sie schwinden ohne jede Hoffnung.
O Gott, bedenke, dass mein Leben nur ein Hauch ist!
Mein Glück ist dahin; es kommt nie wieder.
Noch siehst du mich, doch nicht mehr lange,
und wenn du mich dann suchst, bin ich nicht mehr da.
9-10 Wie eine Wolke, die vorüberzieht,
so ist ein Mensch, der stirbt:
Vom Ort der Toten kehrt er nie zurück;
dort, wo er einmal wohnte, ist er bald vergessen.

11 Nein – ich kann nicht schweigen!
Der Schmerz wühlt in meinem Innern.
Ich lasse meinen Worten freien Lauf,
ich rede aus bitterem Herzen.
12 O Gott, warum lässt du mich so scharf bewachen?
Bin ich denn das Meer oder ein Meeresungeheuer?
13-14 Wenn ich dachte: ›Ich will im Schlaf Ruhe finden
und mein Elend vergessen‹,
dann hast du mich bis in die Träume verfolgt
und mir durch Visionen Angst eingejagt.
15 Am liebsten würde ich erhängt!
Lieber sterben als noch länger in diesem elenden Körper leben!
16 Ich gebe auf! So will ich nicht mehr weiterleben!
Lass mich in Ruhe, denn mein Leben hat keinen Sinn mehr!
17 Gott, warum nimmst du einen Menschen so ernst?
Warum beachtest du ihn überhaupt?
18 Jeden Morgen verlangst du Rechenschaft von ihm;
du beobachtest ihn jeden Augenblick.
19 Wie lange schaust du mich noch prüfend an?
Du lässt mich keinen Augenblick in Ruhe![e]
20 Du Menschenwächter – hat dich meine Sünde denn verletzt?
Warum machst du mich zu deiner Zielscheibe?
Bin ich dir zur Last geworden?
21 Warum vergibst du mir mein Unrecht nicht?
Kannst du keine Sünde übersehen?
Denn bald liege ich unter der Erde,
und wenn du mich dann suchst, bin ich nicht mehr da.«

Bildad: Wer Gott die Treue bricht, hat keine Hoffnung mehr!

Da entgegnete Bildad aus Schuach:

»Wie lange willst du noch so weiterreden?
Wann hörst du auf, hier so viel Wirbel zu machen? Es sind doch nur leere Worte!
Verdreht Gott, der Allmächtige, etwa das Recht?
Meinst du, dass er sein Urteil jemals widerruft?
Deine Kinder müssen gegen ihn gesündigt haben,
darum hat er sie verstoßen und bestraft;
sie haben bekommen, was sie verdienten.
Du aber solltest unermüdlich nach Gott suchen
und zum Allmächtigen um Gnade flehen.
Wenn du aufrichtig und ehrlich bist,
dann wird er sich noch heute um dich kümmern
und dir Haus und Hof wiedergeben, wie du es verdienst.
Was du früher besessen hast,
wird dir gering erscheinen, verglichen mit dem,
was Gott dir schenken wird!

Schau doch nur auf die früheren Generationen,
und achte auf die Weisheit unserer Väter!
Denn unser Leben währt nur kurze Zeit.
Wir wissen gar nichts;
wie ein Schatten huschen unsere Tage vorüber.
10 Aber die Alten können dich
aus ihrer reichen Erfahrung belehren.
Sie sagten:
11 ›Die Papyrusstaude steht nur dort,
wo Sumpf ist,
und ohne Wasser wächst kein Schilf.
12 Noch ehe es emporwächst,
ehe man es schneiden kann,
ist es schon verdorrt!‹
13 Genauso geht es dem, der Gott vergisst;
wer ihm die Treue bricht, hat keine Hoffnung mehr.
14 Worauf er sich stützte, das zerbricht,
und seine Sicherheit zerreißt wie ein Spinnennetz.
15 In seinem Haus fühlt er sich sicher,
aber es bleibt nicht bestehen;
er klammert sich daran, findet aber keinen Halt.
16 Zuerst wächst er auf wie eine Pflanze:
Voller Saft steht sie im Sonnenschein,
und ihre Triebe breiten sich im Garten aus.
17 Die Wurzeln verzweigen sich über die Steine
und finden einen Weg durch jede Ritze.
18 Doch ist die Pflanze mitsamt den Wurzeln einmal ausgerissen,
weiß keiner mehr, wo sie gestanden hat.

19 Wer Gott vergisst, dem geht es ebenso.
Von seinem Glück bleibt nichts mehr übrig,
und andere nehmen seinen Platz ein.

20 Vergiss es nicht:
Gott lässt einen Unschuldigen niemals fallen,
und einen Bösen unterstützt er nicht!
21 Er wird dich wieder lachen lassen
und dir Grund zum Jubel geben,
22 aber deine Feinde werden mit Schimpf und Schande überhäuft,
und ihr Haus wird vom Erdboden verschwinden!«

Hiob: Wie kann ein Mensch vor Gott sein Recht bekommen?

Hiob erwiderte:

»Das alles weiß ich doch schon längst!
Nur eins verrate mir:
Wie kann ein Mensch vor Gott sein Recht bekommen?
Wenn er dich vor Gericht zieht und Anklage erhebt,
weißt du auf tausend Fragen keine Antwort.
Gott ist weise, stark und mächtig!
Wer hat sich je erfolgreich gegen ihn gestellt?
Ohne Vorwarnung verrückt er Berge,
und wenn er zornig wird, zerstört er sie.
Er lässt die Erde zittern und beben,
so dass ihre Säulen wanken.
Er spricht nur ein Wort –
schon verfinstert sich die Sonne,
die Sterne dürfen nicht mehr leuchten.
Er allein hat den Himmel ausgebreitet,
ist über die Wogen der Meere geschritten.
Den Großen Wagen hat er geschaffen,
den Orion, das Siebengestirn
und auch die Sternbilder des Südens.
10 Er vollbringt gewaltige Taten;
unzählbar sind seine Wunder,
kein Mensch kann sie begreifen!

11 Unbemerkt zieht er an mir vorüber;
er geht vorbei, er streift mich,
und ich nehme es gar nicht wahr!
12 Niemand kann ihn hindern,
wenn er etwas aus der Welt rafft.
Wer wagt es, ihn zu fragen:
›Halt! Was tust du da?‹
13 Gott lässt seinem Zorn freien Lauf;
er unterwarf sich seine Feinde,
die dem Meeresungeheuer[f] halfen,
als es sich ihm widersetzte.
14 Und ich? Was kann ich denn erwidern,
mit welchen Worten ihm entgegentreten?
15 Auch wenn ich schuldlos wäre,
könnte ich ihm nichts entgegnen,
nein, ich müsste ihn als meinen Richter noch um Gnade anflehen!
16 Selbst wenn ich darauf drängte,
dass er mir endlich eine Antwort gibt,
würde er mich kaum beachten.
17 Im Gegenteil: Er würde im Orkan mich packen
und grundlos meine Qual vermehren.
18 Er gönnt mir keine Atempause
und sättigt mich mit Bitterkeit.
19 Wollte ich meine Kraft mit ihm messen –
er ist der Stärkere!
Aber es geht ums Recht!
Warum lädt er mich nicht vor,
damit ich mich verteidigen kann?
20 Selbst wenn ich recht hätte,
würde Gott mich zum Geständnis zwingen;
ich müsste mich vor ihm für schuldig erklären,
auch wenn ich schuldlos wäre.
21 Ja, ich bin unschuldig!
Aber es ist mir völlig gleichgültig,
so sehr hasse ich mein Leben!
22 Es ist alles einerlei; deshalb sage ich:
Egal ob du gottlos bist oder fromm –
er bringt dich doch um!
23 Und wenn sein Schlag plötzlich Unschuldige trifft,
dann spottet er noch über ihren Schmerz!
24 Fällt ein Land Tyrannen in die Hände
und werden alle Richter blind für das Recht,
so hat Gott das getan! Wenn nicht er – wer sonst?

25 Meine Jahre sind vorbeigeeilt,
schneller als ein Läufer,
verschwunden sind sie ohne eine Spur von Glück.
26 Sie gleiten dahin,
geschwind wie ein Boot,
sie fliegen rascher als ein Adler,
der sich auf die Beute stürzt.
27 Wenn ich mir sage: Jetzt will ich mein Klagen vergessen,
will glücklich sein und mich freuen,
28 dann packt mich doch die Angst,
dass meine Schmerzen wiederkommen.

O Gott, ich weiß es: Du hältst mich für schuldig!
29 Ich bin ja schon verurteilt –
wozu soll ich mich noch abmühen?
30 Wenn ich meine Hände mit Schneewasser wüsche
oder mit Lauge reinigte, als Zeichen meiner Unschuld,
31 dann würdest du mich doch in eine Jauchegrube tauchen,
dass sich selbst meine Kleider vor mir ekelten!

32 Wärst du ein Mensch wie ich,
dann könnte ich dir antworten!
Wir würden beide vor Gericht gehen,
damit der Streit entschieden wird.
33 Aber es gibt keinen, der zwischen dir und mir entscheidet
und für Recht sorgt[g].
34 Hör auf, mich zu bestrafen!
Halte deine Schrecken von mir fern!
35 Dann könnte ich endlich frei und furchtlos reden,
denn ich bin mir keiner Schuld bewusst[h]

Stell mich nicht als schuldig hin!

10 »Mein Leben ekelt mich an!
Darum will ich der Klage freien Lauf lassen
und mir die Bitterkeit von der Seele reden.
Gott, stell mich nicht als schuldig hin!
Erklär mir doch, warum du mich anklagst!
Gefällt es dir, dass du mich unterdrückst?
Warum verachtest du mich,
den du selbst so kunstvoll gebildet hast?
Die Pläne gewissenloser Menschen aber führst du zum Erfolg.
Hast du denn Menschenaugen?
Siehst du die Dinge nur von außen, so wie wir?
Sind deine Lebenstage auch begrenzt,
deine Jahre rasch vergangen so wie unsere?

Warum suchst du dann nach meiner Schuld
und hast es eilig, jede Sünde aufzuspüren?
Du weißt doch genau, dass ich unschuldig bin
und dass es keinen gibt, der mich aus deiner Hand befreit.

Deine Hände haben mich gebildet und geformt.
Willst du dich jetzt von mir abwenden und mich zerstören?
Bedenke doch, dass du mich wie Ton gestaltet hast!
Lässt du mich jetzt wieder zu Staub zerfallen?
10 Dir verdanke ich mein Leben:
dass mein Vater mich zeugte
und ich im Mutterleib Gestalt annahm.[i]
11 Mit Knochen und Sehnen hast du mich durchwoben,
mit Muskeln und Haut mich bekleidet.
12 Ja, du hast mir das Leben geschenkt
und mir deine Güte erwiesen;
deine Fürsorge hat mich stets bewahrt.
13 Aber tief in deinem Herzen denkst du anders;
in Wirklichkeit hast du dies beschlossen:
14 Auf jedes Vergehen willst du mich festnageln
und mich von meiner Schuld nicht mehr freisprechen.
15 Habe ich mich schuldig gemacht,
dann bin ich verloren!
Doch auch wenn ich im Recht bin,
kann ich nicht zuversichtlich sein,
denn man überhäuft mich mit Schande,
und mein Elend steht mir ständig vor Augen.
16 Will ich mich behaupten, jagst du mich wie ein Löwe
und richtest mich wieder schrecklich zu.
17 Einen Zeugen nach dem anderen lässt du gegen mich auftreten,
dein Zorn wird nur noch größer,
auf immer neue Art greifst du mich an.

18 Warum hast du zugelassen,
dass ich geboren wurde?
Wäre ich doch gleich gestorben –
kein Mensch hätte mich je gesehen!
19 Vom Mutterleib direkt ins Grab!
Ich wäre wie einer, den es nie gegeben hat.
20 Wie kurz ist mein Leben! Schon fast vergangen!
Lass mich jetzt in Frieden, damit ich noch ein wenig Freude habe!
21 Bald muss ich gehen und komme nie mehr wieder.
Ich gehe in ein Land, wo alles schwarz und düster ist,
22 ins Land der Dunkelheit und tiefen Nacht,
ein Land, in dem es keine Ordnungen mehr gibt,
wo selbst das Licht nur schwarz ist wie die Nacht.«

Zofar: Gottes Weisheit kannst du nicht begreifen!

11 Darauf erwiderte Zofar aus Naama:

»Soll diese Flut von Worten ohne Antwort bleiben?
Darf denn ein Schwätzer recht behalten?
Meinst du etwa, dein leeres Gerede verschlägt uns die Sprache?
Willst du weiter spotten,
ohne dass dich jemand zurechtweist?
Du sagst zu Gott:
›Meine Urteile sind völlig richtig!
In deinen Augen bin ich rein!‹

Hiob, ich wünsche nichts sehnlicher,
als dass Gott mit dir redet
und dir zeigt,
wie unendlich tief seine Weisheit ist!
Sie hat so viele Seiten!
Kein Mensch kann sie begreifen.

Glaub mir:
Gott sieht über viele deiner Sünden hinweg!
Kannst du die Geheimnisse Gottes erforschen
und die Vollkommenheit des Allmächtigen erfassen?
Der Himmel oben setzt Gott keine Grenze – dir aber allemal[j]!
Gott kennt die Welt der Toten unten in der Tiefe – du aber nicht!
Seine Größe überragt die Erde
und reicht weiter als das Meer!
10 Wenn er kommt,
dich gefangen nimmt und dann Gericht hält –
wer kann ihn daran hindern?
11 Nichtsnutzige Menschen kennt er ganz genau,
ihr böses Treiben entgeht ihm nicht.
12 Ein Hohlkopf kommt nicht zur Vernunft,
genauso wenig, wie ein Wildesel als Mensch geboren wird.

13 Hiob, fass einen klaren Entschluss:
Streck deine Hände empor und bete zu Gott!
14 Mach deinen Fehler wieder gut
und lass in deinen Zelten kein neues Unrecht geschehen!
15 Dann kannst du jedem wieder offen ins Gesicht sehen,
unerschütterlich und furchtlos stehst du im Leben deinen Mann!
16 Bald schon wird all dein Leid vergessen sein
wie Wasser, das versickert ist.
17 Dann kann dein Leben noch einmal beginnen
und leuchten wie die Mittagssonne,
auch die dunkelsten Stunden werden strahlen wie der lichte Morgen.
18 Dann hast du endlich wieder Hoffnung
und kannst zuversichtlich sein.
Abends siehst du noch einmal nach dem Rechten
und legst dich dann in Frieden schlafen.
19 Kein Feind schreckt dich auf – im Gegenteil:
Viele werden sich um deine Gunst bemühen.
20 Aber alle, die Gott missachten,
schauen sich vergeblich nach Hilfe um;
sie haben keine Zuflucht mehr!
Ihnen bleibt nur noch der letzte Atemzug.«

Hiob: Was ihr wisst, weiß ich auch!

12 Darauf entgegnete Hiob:

»Jawohl, ihr habt die Weisheit gepachtet,
und mit euch stirbt sie eines Tages aus!
Auch ich habe Verstand, genauso wie ihr;
ich stehe euch in nichts nach.
Was ihr sagt, weiß doch jeder!
Aber jetzt lachen sogar meine Freunde mich aus,
obwohl ich unschuldig bin
und keiner mir etwas Schlechtes nachsagen kann.

Früher hat Gott meine Gebete erhört.
Er gab mir Antwort, wenn ich zu ihm rief.
Wem es gut geht, der kann über das Unglück anderer spotten –
ein Schlag ins Gesicht für alle, die ohnehin schon stürzen.
Aber die Gewalttätigen bleiben unbehelligt.
Sie fordern Gott heraus,
sie meinen, ihn in der Hand zu haben,
und leben doch sicher und ungestört.

Von den Tieren draußen kannst du vieles lernen,
schau dir doch die Vögel an!
Frag nur die Erde und die Fische im Meer;
hör, was sie dir sagen!
Wer von diesen allen wüsste nicht,
dass der Herr sie mit seiner Hand geschaffen hat?
10 Alle Lebewesen hält er in der Hand,
den Menschen gibt er ihren Atem.
11 Soll nicht mein Ohr eure Worte prüfen,
so wie mein Gaumen das Essen kostet?
12 Man sagt, Weisheit sei bei den Alten zu finden
und ein langes Leben bringe Erfahrung.
13 Doch Gott allein besitzt Weisheit und Kraft,
nie wird er ratlos; er weiß, was er tun soll.
14 Was er abreißt, wird nie wieder aufgebaut,
und wenn er einen Menschen einschließt,
kann keiner ihn befreien.
15 Hält er den Regen zurück,
dann wird das Land von Dürre geplagt;
lässt er die Wasserfluten los,
dann wühlen sie es um.
16 Er allein besitzt Macht!
Was er sich vornimmt, das gelingt.
Gott hat beide in der Hand:
den, der sich irrt,
und den, der andere irreführt.
17 Königliche Ratgeber nimmt er gefangen;
erfahrene Richter macht er zu Narren.
18 Gefangene eines Königs befreit er,
doch den König selbst legt er in Fesseln.
19 Er führt die Priester weg mit Schimpf und Schande
und bringt alteingesessene Familien zu Fall.
20 Berühmten Rednern entzieht er das Wort,
den Alten nimmt er die Urteilskraft.
21 Fürsten gibt er der Verachtung preis,
und die Mächtigen macht er schwach.
22 Die Dunkelheit überflutet er mit Licht,
ja, die tiefsten Geheimnisse deckt er auf.
23 Er lässt Völker mächtig werden
und richtet sie wieder zugrunde;
er macht ein Volk groß und vertreibt es wieder.
24 Ihren Königen nimmt er den Verstand
und führt sie hoffnungslos in die Irre.
25 Im Dunkeln tappen sie umher
und torkeln wie Betrunkene.«

Wollt ihr für Gott Partei ergreifen?

13 »Das alles ist mir bestens bekannt!
Ich habe es mit eigenen Augen gesehen
und von anderen gehört.
Was ihr wisst, weiß ich auch,
ich stehe euch in nichts nach!
Aber ich will mit dem Allmächtigen reden,
vor ihm will ich mich verteidigen.

Footnotes

  1. 3,8 Bildhafte Redeweise für gottfeindliche Schicksalsmächte.
  2. 5,23 Wörtlich: Dein Bund wird sein mit den Steinen auf dem Feld.
  3. 6,4 Wörtlich: mein Geist trinkt ihr Gift.
  4. 6,14 Der hebräische Text ist schwer zu deuten.
  5. 7,19 Wörtlich: Du lässt mich nicht einmal so lange in Ruhe, bis ich meinen Speichel heruntergeschluckt habe.
  6. 9,13 Wörtlich: Rahab. – Vgl. »Rahab« in den Sacherklärungen.
  7. 9,33 Wörtlich: der seine Hand auf uns beide legt. – Wahrscheinlich eine symbolische Handlung, mit der ein Schiedsspruch verkündet wurde.
  8. 9,35 So in Anlehnung an die griechische Übersetzung. Der hebräische Text ist nicht sicher zu deuten.
  9. 10,10 Wörtlich: Hast du mich nicht wie Milch ausgegossen und wie Käse gerinnen lassen?
  10. 11,8 Wörtlich: Was willst du tun?